Analysen zum Abstandsverhalten auf Bundesautobahnen
Auf Autobahnen geschehen viele Unfälle, weil zu dicht aufgefahren wird. Im Jahr 2022 wurden bei 17.755 Autobahnunfällen mit Personenschaden insgesamt 23.190 Fehlverhalten der Unfallbeteiligten erfasst. Bei fast jedem Dritten Fehlverhalten handelte es sich um die Nichteinhaltung eines ausreichenden Sicherheitsabstands.
In den zehn Jahren von 2009 bis 2019, also vor der COVID-Pandemie, sind die Anteile der Unfälle mit Unfallursache 14 (ungenügender Sicherheitsabstand) auf Autobahnen kontinuierlich von etwa 20 auf 30 Prozent gestiegen. Im Jahr 2022 wurden dort 23.190 Fälle von Fehlverhalten erfasst, von denen 6.971 dem Fehlverhalten „ungenügender Sicherheitsabstand“ zugeordnet waren. Das sind etwa 30 Prozent aller amtlich registrierten Fehlverhalten auf deutschen Bundesautobahnen. Deshalb hat die Unfallforschung der Versicherer (UDV) ein Forschungsvorhaben initiiert und in Kooperation mit Technischen Universität Dresden durchgeführt. Zielstellung dieses Forschungsprojektes war es, das Abstandsverhalten von Autofahrenden auf Autobahnen mit Hilfe von Drohnenmessungen zu analysieren und daraus Empfehlungen abzuleiten, die zu einer wirksamen Verbesserung der Verkehrssicherheit führen können.
Die im Rahmen dieses Forschungsvorhabens durchgeführte Unfallanalyse zeigt, dass der „ungenügende Sicherheitsabstand“ bei Unfällen mit Personenschaden das am häufigsten genannte Fehlverhalten beim Unfallverursacher auf Autobahnen ist. Mehr als 90 Prozent davon sind Unfälle im Längsverkehr und mehr als 80 Prozent davon Zusammenstöße mit einem Fahrzeug, das vorausfährt oder wartet. Als Unfallverursachende sind häufig Pkw-Fahrende, mit zunehmender Verletzungsschwere steigt jedoch der Anteil von Lkw als Unfallverursachende. Eine stichprobenhafte Auswertung von Unfallhergangstexten (etwa 300 Unfälle mit Ursache 14 auf Autobahnen) zeigt, dass diese Unfälle häufig auf ein erhöhtes Verkehrsaufkommen oder Störungen im Verkehrsablauf (z. B. Staus) zurückzuführen sind.
An 25 ausgewählten Messstellen (20 auf der freien Strecke und fünf an Autobahnkreuzen bzw. Anschlussstellen) wurden die Abstände und die Geschwindigkeiten von Fahrzeugen sowie deren Abstandsverhalten beim Fahrstreifenwechsel mit Hilfe von Drohnen aufgenommen und analysiert. Die Ergebnisse dieser Analysen lassen sich wie folgt im Wesentlichen zusammenfassen:
1. | Je voller die Autobahn wird, desto häufiger treten kritische Abstände auf. |
2. | Auf dem linken Fahrstreifen werden öfter unzureichende Abstände eingehalten als auf dem rechten Fahrstreifen. |
3. | Pkw-Fahrende halten häufiger geringe Abstände als Lkw-Fahrende. |
4. | Bei Pkw nimmt der Anteil kritischer Abstände linear zu, je voller die Autobahn wird. Dies ist bei Lkw nicht der Fall. |
5. | Konkrete Gründe für die Entstehung von Unfallhäufungen mit „geringem Sicherheitsabstand“ ließen sich aus dem analysierten Abstandsverhalten jedoch nicht herleiten, denn es konnten keine Unterschiede im Abstands- und Geschwindigkeitsverhalten der Autofahrenden auf Unfallhäufungs- und Kontrollstellen festgestellt werden. |
6. | Im Einfahrbereich wird häufiger mit geringerem Abstand als im Ausfahrbereich gefahren. Gleichzeitig sind die Geschwindigkeiten an Einfahrten geringfügig niedriger als bei Ausfahrten. |
7. | Fahrstreifenwechsel nach links führen häufiger zu kritischen Situationen, da im Zuge dieser sehr häufig geringe Abstände gehalten werden oder das nachfolgende Fahrzeug aufgrund des Fahrstreifenwechsels abbremsen muss. |
8. | Beim Wechsel vom rechten Fahrstreifen nach links und beim Einfahren auf die Autobahn werden meistens Lücken von weniger als 100 Meter genutzt. |
9. | Ein direkter Einfluss der Fahrstreifenwechsel auf das Unfallgeschehen konnte auf Grundlage der durchgeführten Unfallanalyse jedoch nicht festgestellt werden. |
Basierend auf den Ergebnissen und Schlussfolgerungen aus den durchgeführten Analysen zum Unfallgeschehen, Abstandsverhalten und Fahrstreifenwechsel lassen sich folgende Empfehlungen ableiten.
Infrastruktur und Verkehr
- An unfallauffälligen Autobahnabschnitten mit regelmäßigen Staus sollte der Verkehrsfluss durch dynamische Strecken- oder Netzbeeinflussungsanlagen so harmonisiert werden, dass Staus vermieden und Abstände eingehalten werden. Dazu können auch temporäre Geschwindigkeitsbeschränkungen oder Überholverbote gehören. Gegebenenfalls sollten diese Maßnahmen durch wirksame ortsfeste oder mobile Überwachungsmaßnahmen durchgesetzt werden.
Vernetzung von Infrastruktur und Fahrzeugen
- Die Implementierung von Stauwarnungen hinsichtlich einer Anpassung des Fahrverhaltens (z. B. Adaptation der Fahrgeschwindigkeiten und des Abstandes) und Echtzeit-Warnungen vor Stauenden in Navigationsgeräten in Fahrzeugen und in mobilen Geräten anderer Mobilitätsdienstleister kann dazu beitragen, Unfälle mit ungenügendem Sicherheitsabstand zu vermeiden oder zu reduzieren.
- Die Vernetzung von Infrastruktur und Fahrzeugen durch Kooperative Intelligente Verkehrssysteme (C‑ITS) sollten Bund und Fahrzeugindustrie vorantreiben, um eine rechtzeitige Anpassung des Fahrverhaltens von Verkehrsteilnehmenden zu unterstützen.
Fahrerassistenzsysteme
- Der verpflichtende Einbau von Fahrerassistenzsystemen (FAS) in Neufahrzeugen mit der General Safety Regulation (GSRII) vom Europäischen Parlament, wie automatische Notbremse, Notbremslicht, Müdigkeits- und Aufmerksamkeitswarner, Intelligent Speed Adaptation (ISA), wird positive Effekte für die Verkehrssicherheit haben. Allerdings sollte deren Wirksamkeit im Feld systematisch analysiert werden, um ihre Auslegung gegebenenfalls anzupassen.
- Die weitere Verbreitung von assistierten Fahrfunktionen der Stufe 2 für Pkw und Lkw kann zur Harmonisierung des Verkehrsablaufs auf Autobahnen beitragen und gegebenenfalls zu einer Erhöhung der Verkehrssicherheit führen. Diese Funktionen bestehen aus einem intelligenten ACC (Adaptive Cruise Control), das den Sicherheitsabstand zum vorausfahrenden Fahrzeug und die Fahrgeschwindigkeit an die zulässige Höchstgeschwindigkeit anpasst, sowie einer Spurmittenführung. Es handelt sich dabei um assistierte Fahrfunktionen der Stufe 2, bei denen die Fahrer:innen weiterhin die volle Kontrolle über die Fahraufgabe besitzen. EuroNCAP bewertet diese Systeme, da die richtige Auslegung der Fahrer:inneneinbindung in die Fahraufgabe entscheidend für die Verkehrssicherheit ist. Grundsätzlich gilt dies für Pkw und Lkw gleichermaßen. Eine Weiterentwicklung zu Fahrfunktionen der Stufe 3, bei denen die Fahrer:innen die Fahraufgabe an das Fahrzeug abgeben, könnte zu einem weiteren positiven Effekt für die Verkehrssicherheit führen. Auch bei diesen Systemen sollte die Wirksamkeit im Unfallgeschehen analysiert werden, um eventuelle negative Effekte frühzeitig erkennen zu können.
Verkehrsverhalten und Kampagnen
- Geeignete Kampagnen können Verkehrsteilnehmende für potenzielle Gefahren bei Störungen im Verkehrsablauf zusätzlich sensibilisieren.
- Sensibilisierung von Pkw-Fahrer:innen für einzuhaltende Abstände durch Kampagnen, die die geltenden Regelungen zum Abstand gemäß Bußgeldkatalogverordnung (Anhang Tabelle 2) einfach und plakativ erläutern.
- Diese Kampagnen sollten durch verstärkte, regelmäßige mobile und gegebenenfalls ortsfeste Abstands- sowie Geschwindigkeitsüberwachungen (auch bei verkehrsbedingt notwendigen dynamischen Tempolimits) flankiert werden.
Ausblick
- In Verkehrsunfallanzeigen sollte das Merkmal „Stau“ als Besonderheit bei Autobahnen aufgenommen werden.
- Weiterführende Forschungen zum Einfluss von Sichtweiten auf Sicherheitsabstände, Unfälle und Unfallfolgen können zusätzliche Erkenntnisse zur Vermeidung oder Reduzierung von Unfällen mit ungenügendem Sicherheitsabstand auf Autobahnen generieren. Hinzu kommen ebenso Forschungen zum Einfluss von Fahrstreifenwechseln (auf der freien Strecke und in Knotenpunkten) auf das Unfallgeschehen und den Verkehrsablauf auf Autobahnen.