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„Geschützte Kreuzung“ – Sinn oder Unsinn?
Es ist doch immer wieder spannend, wie sich eine Handvoll Radaktivisten im Netz zusammentun, wenn sich eine Veröffentlichung gegen ihre Interessen richtet. Beim Thema „geschützte Kreuzung“ kommen nun auch noch die Interessen von Ingenieurbüros dazu, die sich schon mal für entsprechende Aufträge warmlaufen.
Worum geht es: Schon seit Längerem wird diskutiert, ob ein sogenanntes niederländisches Modell, bei dem der Radweg zunächst von der Straße weggeführt wird, um dann mit mehreren Metern Versatz zum Kreuzungsscheitelpunkt die Fahrbahn zu kreuzen, bessere Sicht auf Radfahrende zulässt, insbesondere aus Lkw. Eine solche allgemeine Annahme wurde jüngst durch theoretische Berechnungen eines Hamburger Ingenieurbüros gestützt. Dabei sind natürlich verschiedene Parameter variabel. Zunächst ist das Modell zwar grundsätzlich in Holland tatsächlich verbreitet. Auch wenn ein Absetzmaß von 5m im Design Manual for Bicycle Traffic von CROW für Radwege an Einmündungen festgelegt ist, fehlt in diesem Standardwerk aber die Darstellung einer „geschützten Kreuzung“. Es gibt also keinen einheitlichen Standard. Auch gibt es natürlich verschieden ausgeprägte Fahrerkabinen bei Lkw und entsprechend auch nicht einheitliche Sichtachsen.
Wir haben nun in einem Versuchsaufbau zu klären versucht, ob in einer dynamischen Situation die Sichtbeziehungen besser als an Standardkreuzungen sind und ob der elektronische Abbiegeassistent bei dieser Gestaltung noch funktioniert. Bewusst haben wir uns dabei für ein Absetzmaß von 5 Metern entschieden, weil nur bei dieser Gestaltung der Radfahrende Vorrang hat und dies dem Absetzmaß nach CROW entspricht. Gefahren wurde mit einem Mercedes Actros und damit dem volumenmäßig mit Abstand am weitesten verbreiteten schweren Lkw-Modell (Forschungen zeigen, dass schwere Radfahrer-Unfälle beinahe ausschließlich mit Lkw über 12 Tonnen stattfinden). Dabei fuhr der der Radfahrer zunächst neben dem Lkw. Der Abbiegeassistent funktionierte, wenn der Radfahrer sich unmittelbar neben dem Fahrzeug befand, während der Blinker gesetzt wurde. War die Absetzbewegung schon eingeleitet, funktionierte der Assistent nicht mehr.
Umso wichtiger war es also, dass die direkten Sichtbeziehungen gegeben waren. In unserem Design haben wir einen Kurvenradius von 12 Metern gewählt. An Kreuzungen mit kleineren Radien könnte der Sattelzug nicht mehr ohne Rangieren abbiegen. Größere Radien sind erstens aus Platzgründen oft nicht möglich und führen zweitens zu höheren Abbiegegeschwindigkeiten. Das Abbiegemanöver haben wir einmal mit sehr eng am Bordstein geführtem Radius und einmal mit weiterer Ausholbewegung gefahren. In beiden Fällen hat der Lkw-Fahrer den Radfahrer an dem Punkt, an dem sich beide Fahrzeuge treffen würden, nicht gesehen. Der Vorwurf, dass der Radfahrer an dieser Stelle stand, ist einfach nur peinlich. Er hat hier aus der dynamischen Situation heraus deshalb bis zum Stillstand gebremst, weil er gerne überleben wollte (in diesem Fall war ich das selbst).
Ich halte deshalb hier erneut fest, dass das Modell in der von uns gewählten Konfiguration nicht funktioniert und das „Sicherheitsnetz“ Abbiegeassistent auch nicht. Mit größeren Absetzmaßen von über sechs Metern mag das besser sein. Dies hätte aber nicht nur die beschriebenen rechtlichen Nachteile, sondern würde auch deutlich mehr Fläche erfordern und zudem Fußgänger massiv in ihrer Bewegung einschränken (was das Modell schon grundsätzlich tut).
Der Verein „Changing Cities“ hat nun freundlicherweise darauf hingewiesen, dass in den Niederlanden dieses Kreuzungsmodell in der Regel mit getrennten Grünphasen verbunden ist. Da danke ich für die Offenlegung der eigentlichen Motive. Bei getrennten Phasen funktionieren ja auch Standardkreuzungen sicherheitstechnisch. Es geht tatsächlich, wie auch bei den PopUp-Radwegen, um das Gefühl: Abgesetzte Führung fühlt sich besser an, geschützter Aufstellbereich für indirektes Linksabbiegen, Rechtsabbiegen am Signal vorbei ist möglich, die vorgezogene Haltlinie für Radverkehr sorgt für eine räumliche Trennung und Entzerrung des Konflikts bei Grünbeginn. Das verstehe ich alles. Aber ganz offensichtlich gibt es da noch in Punkto Sicherheit Optimierungsbedarf. Dazu können wir gerne in einen ernsthaften Dialog treten.
Kommentare
Johann Mayerwieser am 14.09.2020:
Diese ganze Herumbastelei
Brockmann am 17.09.2020:
Zu schön, um wahr zu sein
Nicht, dass gegen geringere Geschwindigkeiten grundsätzlich etwas spricht. Aber für den Abbiegeunfall, der einer unserer Hauptprobleme ist, stimmt die Gleichung leider nicht so einfach. Das abbbiegende Kraftfahrzeug ist jedenfalls langsamer als 30 km/h und Lkw in der Regel sogar langsamer als 15 km/h. Da ist die Geschwindigkeit des Radfahrers fast entscheidender. Und die nimmt durch gute und breite Radverkehrsanlagen ebenso zu, wie durch die rasante Verbreitung von Pedelecs.
Ralf Böhm am 10.10.2020:
Sehr geehrter Herr Brockmann,
Brockmann am 12.10.2020:
Guter Einwand
Da bin ich zwar nicht sicher, ob das ebenfalls eher Wunschdenken ist, aber bei weiteren Studien, in denen auch das Verhalten beobachtet wird, werden wir das mal im Auge behalten.
Neuber Wolfgang am 15.09.2020:
Geschützte Kreuzung
Brockmann am 17.09.2020:
Veröffentlichung
Eine Veröffentlichung dazu ist in Vorbereitung!
Susi am 21.09.2020:
Danke für die Untersuchung
Brockmann am 29.09.2020:
Forschung auf dem Weg
Danke für die Ermutigung. Die von Ihnen angeregte weitere Forschung sehen wir auch als notwendig an. Wir selbst und auch andere planen inzwischen auch genau das. Aber Forschung braucht Zeit...
Martin Schönherr am 09.10.2020:
Geschützte Kreuzung
Dirk SChmidt am 10.10.2020:
Fahrversuch Schutzkreuzung / Funktion Abbiegeassistent 08-2020
Brockmann am 12.10.2020:
Vergleich mit NL schwierig
In der Reihenfolge Ihrer Fragen
1. Fachwissen aus NL:
Ja. Wir haben sogar gerade eine vergleichende Studie des Unfallgeschehens abgeschlossen, bei dem die offiziellen Statistiken aus den Niederlanden, Dänemark und Deutschland verglichen wurden. Die Studie steht kurz vor der Veröffentlichung. Trauriges Fazit: In den Niederlanden sterben mehr Radfahrer je gefahrene Rad-Kilometer als in Deutschland. In Deutschland geschehen rund 66% der Radunfälle mit Personenschaden an Kreuzungen und Einmündungen, in den Niederlanden rund 60%. Auch in den Niederlanden sind Kreuzungen ein Problem hinsichtlich Sicherheit. Die Kollegen von SWOV und CROW standen jedoch nicht zu einem direkten Austausch zur Verfügung, da sie den Fokus derzeit nicht auf Kreuzungen legen. Vorher-Nachher-Untersuchungen aus den Niederlanden gibt es bislang nicht, derzeit läuft eine Studie dazu an einer großen Kreuzung. Unfallzahlen auf kommunaler Ebene oder für einzelne Kreuzungen sind aber auch für die Partner, mit denen wir in den Niederlanden zusammengearbeitet haben, kaum zu bekommen bzw. von kaum ausreichender Qualität für einen direkten Vergleich.
2. Reduzierung des Problems auf die (nicht)Funktion des Abbiegeassistenten.
Ganz im Gegenteil: Mein Mantra ist: Direkte Sicht, direkte Sicht, direkte Sicht! Genau das verspricht dieser Kreuzungstyp, hält es aber nicht. Das wäre also keine Verbesserung gegenüber unserer Standardkreuzung, bei der aber wenigstens der Abbiegeassistent funktioniert.
3. Ideenstudie zur Weiterentwicklung des Abbiegeassistenten:
Die Technikentwicklung obliegt der Fahrzeugindustrie. Wir betreiben keine Entwicklung und könnten sie finanziell auch nicht stemmen. Ich bin ein Fan von BirdView-Systemen, die die gesamte Umgebung des Fahrzeugs zeigen. Aber auch hier wäre unsere Standardkreuzung geeigneter für das Erkennen aller Gefahren.
4. Haben Sie persönlich in den letzten Jahren (oder evtl. sogar zeitnah in 2020) vor dem Versuch selbst persönlich alltagsradinfrastruktur dort selbst per Rad erfahren?
Da ich jedes Jahr in NL Urlaub mache: Ja. Dabei bemerke ich aber auch ein völlig anderes Verkehrsklima, sowohl der Radfahrenden als auch der Kfz. Übrigens sind dort sehr viele Kreuzungen mit getrennten Ampelphasen versehen. Das wäre auch bei uns die Königslösung, würde aber auch nicht für diesen Kreuzungstyp sprechen, weil es auch unsere Standardkreuzung entschärft.
Andreas Hoffmann am 10.10.2020:
Weitere Forschung?
Brockmann am 12.10.2020:
In Arbeit
Danke für das Interesse. Quelle steht Ende dieser Woche zur Verfügung.
Sven am 11.10.2020:
Ihr Test wurde also mit einem
Brockmann am 12.10.2020:
Lkw völlig in Ordnung
Den Versuch haben wir zunächst auf der Standardkreuzung gefahren. Dort funktioniert der Assistent sehr gut. Ein wichtiges Merkmal guter Assistenten ist allerdings eine geringe Fehlwarnquote. Ist diese hoch, sinkt der Informationswert auf Null. Ein sich entfernendes Objekt wird als abbiegend identifiziert und damit zu Recht nicht detektiert. Will man das ändern, steigt an Standardkreuzungen die Fehlwarnquote.
Lukas W. am 13.10.2020:
Sehr geehrter Herr Brockmann,
Brockmann am 19.10.2020:
Hochbordradweg nicht grundsätzlich schlechter
Zu der Frage, ob man Verletzte und Tote gegen einen möglichen Gewinn beim Umweltschutz aufwiegen kann, habe ich eine klare Meinung und hätte sie auch, wenn ich nicht Unfallforscher wäre: Nichts rechtfertigt die Gefährdung von Menschenleben. Idealerweise bekommen wir beides gut hin, aber man kann nicht bewußt in ein Risiko laufen, mit Hinweis auf positive Wirkungen an anderer Stelle. Das sind ethische Grundfragen, die von Schirach in seinen Büchern wunderbar diskutiert. Bei der Radwegeführung haben wir entgegen Ihrer Darstellung niemals ausschließlich eine Führung auf der Fahrbahn empfohlen. Da es im Wesentlichen um die Sichtbeziehungen geht, kann auch ein Hochbordradweg bei ausreichender Breite geeignet sein. Aus Befragungen und Beobachtungen wissen wir, dass die meisten Radfahrenden diesen bevorzugen, selbst wenn die Benutzungspflicht aufgehoben ist und ein Streifen auf der Fahrbahn markiert ist. Das sollten wir durchaus mit beachten.
Iko Tönjes am 21.10.2020:
Folgerungen?
Brockmann am 22.10.2020:
Infrastruktur muss besser werden
Ich beantworte mal in der Reihenfolge: 1. Ja, wir haben uns hier auf den Lkw konzentriert, weil es um die Behauptung ging, dass bei diesem Kreuzungstyp die Sicht besser ist. Unsere Untersuchungen zeigen auch, wenn Lkw-Abbiegeeunfall, dann war es meist ein großer. Für Pkw muss das in der Tat genauer untersucht werden. 2. Standardkreuzungen sind alle, die die Radanlage parallel zur Fahrbahn oder auf der Fahrbahn führen, also nicht verschwenkt werden. Und, doch, die Sichtbeziehungen sind schlechter, weil bei der verschwenkten Lösung der Radfahrende früher aus dem Spiegel verschwindet und die direkte Sicht jedenfalls nicht besser ist. 3. Wir sind einen neuen Actros gefahren. Tatsächlich haben alle Assistenten Schwierigkeiten, Fahrrräder hinter Sichthindernissen zu erkennen. Das geht mit Radar nicht besser, kann aber durch Verschneiden von Kamera und Radar optimiert werden. Ich kenne kein System, das dies kann. Das Problem ist hier auch nicht der Assistent, sondern die Radverkehrsanlage. Eine Führung hinter Sichthindernissen solllte es eigentlich nicht mehr geben. Ich halte es auch für richtig, dass ein sich fünf Meter entfernender Radfahrer nicht mehr detektiert wird. Wollte man das ändern, geht die Fehlwarnquote hoch. Das sollte auch nicht mit einem Kamera-Monitor-System "geheilt" werden.
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